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Unschuld

eine Kurzgeschichte von Harald Klingler

Emine stand erwartungsvoll vor mir und strahlte mich von unten an. “Herr Campana, schauen Sie mal!”, sprach sie, senkte ihren Blick und strich mit ihrer Hand über das Muster auf der Brust ihres Shirts. Das Bild änderte sich auf wundersame Weise. Sie hatte es zu ihrem elften Geburtstag geschenkt bekommen und präsentierte es mir nun stolz vor der ersten Unterrichtsstunde. Sie blickte wieder auf und ihr Gesicht strahlte etwas Überwältigendes, von authentischer Freude, von richtigem Stolz aus.

“Wow”, lobte ich voller Bewunderung, “das ist aber ein geniales Shirt, wunderschön!” “Wollen Sie es auch mal probieren?”, fragte sie jetzt mit großen Augen. Sie fragte voller Unschuld, wirklich voller Unschuld! Wäre Naivität der bessere Begriff? Mit dem schwingt jedoch eine Nuance von Dummheit mit, doch dumm war Emine nicht. Sie war einfach nur unverdorben.

Ich steckte in der Zwickmühle. “Äääh, nein, vielen Dank, Emine, das kann ich nicht tun. Streich doch du nochmals darüber und zeig mir das schöne andere Bild”, ermutigte ich sie. “Gefällt Ihnen das Shirt nicht, dass Sie nicht darüber streichen wollen?”, hakte die Elfjährige nach. Es arbeitete fieberhaft in meinem Gehirn. Wie kann ich einem derart unschuldigen Wesen wie ihr erklären, dass ich als Lehrer nicht über ihr Shirt streichen darf, und das auch nicht will?

Emine wird mein Zögern und ihre Zurückweisung wohl genauso wenig verstanden haben, wie es mir damals mit meiner Mutter ging. Ich war als Knirps im elterlichen Schlafzimmer allein auf Entdeckungsreise und fand zu meiner Freude einen Luftballon unter dem Bett. Irritierend war nur, dass er keine bunte Farbe hatte, wie ich sie sonst vom Sportgeschäft oder der Bank kannte, wo man die Werbe-Ballons auf einem dünnen Metallstängelchen mitnehmen durfte, und damit prima seine Geschwister necken konnte. Auch die Form war etwas anders, doch konnte ich das längliche Ding gut aufpusten, es schmeckte und roch nur komisch. Als ich damit zu Mama in die Küche rannte, damit sie mir einen Knoten reinmachte, fiel ihr fast der Kochlöffel aus der Hand. Sie errötete wie eine überreife Tomate, riss mir meinen Ballon aus der Hand, schalt mich, knüllte ihn in ein Taschentuch und warf alles miteinander mit dem Wort “Grausig!” in den Mülleimer. Lange grübelte ich darüber nach, was ich wohl falsch gemacht haben mochte.

Heute weiß ich es natürlich, weil ich das Land der Unschuld schon lange verlassen habe. Unschuld, ein widerspenstiger Begriff beim genaueren Hinsehen, denn wo bin ich jetzt? Im Land der Schuld? Was ist meine Schuld? Zu wissen, dass mein Pipimax nicht nur zum Strullern taugt?

Die Unschuld verlieren meint dann wohl auch und nicht nur, dass man den Zustand der Unbefangenheit verlassen hat und nun Dinge sieht und tut, die einem vorher verborgen waren. Das kann gut und schlecht zugleich sein …